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In den Kliniken und Seniorenhäu-

sern der Cellitinnen zur hl. Maria

sind viele indische Ordensfrauen in

der Pflege und Seelsorge tätig. Das

CellitinnenForum hat sich mit eini-

gen von Ihnen unterhalten, um zu

erfahren, wie die Alten- und Kran-

kenpflege in Indien organisiert ist.

Etwa 120 Millionen Inder sind be-

reits heute über 60 Jahre alt. Bis

2050 werden es wohl 320 Millionen

sein, so die düstere Prognose. Düs-

ter, denn schon heute hat Altwer-

den in Indien nichts mit Würde zu

tun. Staatliche Sicherungssysteme

wie Renten- oder Krankenversiche-

rung gibt es auf dem Subkontinent

so gut wie gar nicht. Lediglich 1,6

Prozent beziehen eine Armenren-

te von 200 Rupien im Monat. Das

sind umgerechnet noch nicht ein-

mal drei Euro. Selbst in Indien kein

Betrag, der einen mehr als zwei

bis drei Tage über

Wasser hält. Nur

zehn Prozent der

Menschen erhal-

ten eine Staats-

pension oder Be-

triebsrente, die

ihnen immerhin

das Überleben si-

chert. Das staat-

lich finanzierte

Gesundheitssys-

tem ist in einem

schlechten Zu-

stand. Es fehlt an

Fachkräften und

oft auch an medi-

zinischem Know-how. Operationen

und Medikamente sind generell aus

eigener Tasche zu zahlen. Für die

Pflege und die Mahlzeiten in den

Kliniken ist die Familie des Patien-

ten zuständig. Wer es sich leisten

kann, lässt sich in einer der zahl-

reichen Privatkliniken behandeln,

die einen Vergleich mit westlichen

Krankenhäusern nicht scheuen

müssen.

Zwischen Ideal und Realität

Bisher verlangte es die Tradition,

dass die jüngere Generation sich

um die Eltern kümmert – soweit

das Ideal. Mutter und Vater leben

unter dem Dach des ältesten Soh-

nes. Sind sie krank und schwach,

übernimmt die Schwiegertochter

die Pflege. Die Realität sieht heute

wahrlich anders aus: Immer mehr

Inder zieht es vom Land in die

Stadt. Unversorgt zurück bleiben

die Alten. Und auch in den Städten

schaffen es viele Familien nicht, die

Älteren mit dem Notwendigsten zu

versorgen, kommen sie doch selbst

nicht über die Runden: Mehr als

50 Prozent der Inder leben in Ar-

mut und müssen mit weniger als

1,90 Dollar pro Tag auskommen.

Und auch die Mittelschicht fühlt

sich nicht mehr verpflichtet, älteren

Angehörigen beizustehen. Junge,

gut ausgebildete Inderinnen wollen

beruflich vorankommen, statt an

das Haus mit pflegebedürftigen An-

gehörigen gebunden zu sein. Kurz:

Das VersorgungssystemGroßfami-

lie funktioniert nicht mehr.

Die Indische Regierung hat das

Dilemma erkannt. Sie tritt für ein

menschenwürdiges Leben im Alter

ein und hat sich auch gesetzlich

dazu verpflichtet, doch lassen die

Taten noch auf sich warten. Das

staatliche Förderprogramm für alte

Menschen (‚help age System‘) exis-

tiert lediglich auf dem Papier. Das

hat Folgen: Besonders auf dem

Land oder in armen Familien müs-

sen alte Menschen bis ins hohe

Alter arbeiten, um zu überleben.

Sind sie zu schwach dazu, sterben

sie einsam und unversorgt auf der

Straße. Gewalt innerhalb der Fa-

milien, auch der wohlhabenden,

gegenüber den (Schwieger-) Eltern

sind keine Seltenheit, sei es aus

purer Überforderung oder weil die

Alten und Kranken dem Wunsch

der Jüngeren nach Individualität

Alt und pflegebedürftig in Indien

Keiner will sie haben

Medizin | Betreuung

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CellitinnenForum 3/2019