Die Therapietreue sollte nicht nur
bei Senioren und Patienten, die vie-
le Arzneimittel einnehmen müssen,
überprüft und optimiert werden,
auch Kinder und Jugendliche profi-
tieren hiervon! Besonders wichtig
erscheint in diesem Zusammen-
hang, das Therapieverständnis und
die Therapietreue junger Patienten
mit chronischen Erkrankungen zu
fördern, da sie oft lebenslang mit
der Erkrankung und deren Behand-
lung konfrontiert sind. Werden
entsprechende Weichen nicht früh
gestellt, kann die Einstellung zur
Krankheit und der Umgang mit ihr
nur schwer in späteren Lebensjah-
ren erlernt werden. Mitunter wird
durch eine schlechte Kontrolle der
Erkrankung in der Kindheit und Ju-
gend auch der Weg für irreparable
Folgeschäden geebnet.
Krankheit ohne Auszeit
In Deutschland leben derzeit ca. 30.000
Kinder und Jugendliche mit Diabetes
mellitus Typ 1 (T1DM). Auf sie treffen
in besonderem Maße die oben genann-
ten Feststellungen zur Dringlichkeit der
frühen Weichenstellung zu, denn junge
Diabetiker haben noch ein langes Leben
vor sich. Bei schlechter glykämischer und
metabolischer Kontrolle drohen akute
Komplikationen, wie schwere Hypoglyk-
ämien und diabetische Ketoazidose. Wird
die Therapie aber über Jahre nicht gut ein-
gehalten, können zudem mikro- und ma-
krovaskuläre Langzeitschäden, wie eine
diabetische Retinopathie, Nephropathie
und Neuropathie resultieren. Insbeson-
dere Jugendliche gelten als Risikopatien-
ten in der Diabetestherapie und werden
häufiger als Patienten anderer Alters-
gruppen mit Komplikationen in ein Kran-
kenhaus aufgenommen. Der Grund: Ihr
Blutzucker ist aufgrund physiologischer
Veränderungen in der Pubertät aber vor
allem auch durch eine wesentliche psy-
chosoziale Komponente, das jugendliche
Autonomiestreben, schwer einzustellen.
Zu den physiologischen Veränderun-
gen zählen z. B. verstärkte Stress- und
Wachstumshormonausschüttung, letzte-
re erhöhen insbesondere die morgendli-
chen Blutzuckerwerte (auch bekannt als
Dawn-Phänomen), aber auch verstärkte
Sexualhormonausschüttung, welche die
Insulinempfindlichkeit senken. Proble-
matisch ist in diesem Lebensabschnitt
auch, dass Jugendliche ein verändertes
und unregelmäßiges Ess- und Schlafver-
halten zeigen, auch treten Essstörungen
unter (meist weiblichen) jugendlichen Di-
abetikern gehäuft auf.
1
Im Streben nach
Unabhängigkeit vernachlässigen viele
Heranwachsende ihre Therapie, z. B. in-
dem sie nicht mehr zuverlässig Blutzucker
messen, Insulineinheiten „Pi mal Daumen“
spritzen oder gar Verweigerungsversu-
che gegen den unsichtbaren Feind – oder
übertragen auf die Eltern – unternehmen.
Die Akzeptanz der Erkrankung und ihrer
Therapie ist in diesem Lebensabschnitt
besonders problematisch. Auch wollen
Jugendliche nicht krankheits- oder thera-
piebedingt aus ihrem Freundeskreis aus-
geschlossen werden, wollen auch einmal
feiern gehen oder auswärts übernachten,
jedoch können sie sich die Flexibilität der
Gleichaltrigen in puncto Lebensstil (bei-
spielsweise bzgl. Mahlzeiten, Alkoholkon-
sum) nicht erlauben. Ihren Alltag diktiert
der Diabetes.
Anforderungen an die Adhärenz
Bei intensivierter Insulintherapie wird den
Patienten tagtäglich viel abverlangt. The-
rapietreue bedeutet hier – bedingt durch
die Komplexität der Erkrankung und der
Therapie – wesentlich mehr als nur die
korrekte Einnahme von Arzneimitteln:
• 4- bis 6-mal am Tag Blutzucker messen
und dokumentieren,
• 4- bis 5-mal am Tag Insulin spritzen,
• 3-mal am Tag Brot- oder Kohlenhydrat-
einheiten zählen,
• gezielt Zwischenmahlzeiten einneh-
men, auch wenn man nicht hungrig ist
Dies entspricht ca. 5.000 Interventionen
pro Jahr, in denen der jugendliche Patient
mit seiner Erkrankung konfrontiert ist.
Belastend kommt hinzu, dass Blutzucker-
messungen und Insulin spritzen oft in der
Öffentlichkeit (Schule) oder in unpassen-
den Situationen durchzuführen sind.
Eine Diabetestherapie ist aber eben-
so wenig starr wie die zugrundeliegende
Erkrankung und der eigene Tagesablauf:
ständig muss das Verhalten reflektiert
und angepasst werden, d. h., es müssen
stets Entscheidungen getroffen wer-
den, zum Beispiel zur Dosisanpassung
bei sportlichen Aktivitäten, infolge ei-
nes abweichenden Essverhaltens oder
Dr. Verena Stahl
(Herdecke) ist Apothekerin und wurde
an der University of Florida als Semi-Resident im landes-
weiten Drug Information & Pharmacy Resource Center
ausgebildet. Außerdem: berufsbegleitende Dissertation zu
einem Thema der AMTS, freiberufliche Tätigkeit u. a. als
Autorin für die DAZ und als Referentin für diverse Apothe-
kerkammern.
Dr. Verena Stahl
Chaos
im Kinderzimmer
Adhärenz bei Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1
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/ AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal
CHAOS IM KINDERZIMMER