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Aufklärung bis Industrialisierung

Im Zeitalter der Aufklärung schließ-

lich ging man mit dem Alter milder

um. Sympathie, Mitgefühl und Rea-

lismus traten in den Vordergrund.

England verabschiedete die ersten

Armengesetze für Alte, mit stei-

gender Lebenserwartung bildete

sich die Rolle der Großeltern in der

Erziehung der Enkel heraus. Das

revolutionäre Frankreich feierte ein

‚Fest der Alten‘ und anstelle des

frommen Rückzugs aus der Gesell-

schaft genossen zumindest die, die

es sich leisten können, den Ruhe-

stand. Statt zu den Schriften von

Aristoteles, der mit dem Alter Miss-

gunst, Neid und Habgier verband,

besann man sich auf die Ciceros.

Der römische Gelehrte setzte sich

schon in seiner Zeit für ein ‚aktives

Alter‘ ein, das seine Ressourcen –

Gelassenheit, Weisheit, Erfahrung

und Fleiß – mithilfe körperlicher Be-

tätigung möglichst lange bewahren

sollte. Cicero ebnete den Weg für

eine vorurteilsfreie Sicht auf die letz-

te Lebensphase.

Von einem ‚goldenen Zeitalter‘ für

diese Generation konnte aber noch

immer keine Rede sein, denn schon

zeichnete sich am Horizont die In-

dustrialisierung ab, die von ihren

Akteuren ein hohes Maß an Mo-

bilität, Flexibilisierung und Schnel-

ligkeit erwartete – Anforderungen,

die alte Menschen nur begrenzt

erfüllen. Das ‚Proletariat der Älte-

ren‘, für die es in den Fabriken kei-

ne Verwendung mehr gab und die

sich, sofern es Körper und Geist

zuließen, mit Gelegenheitsarbeiten

wie Straßenfegen oder Putzen für

ein Almosen durchschlugen, nahm

in den Städten rapide zu. Neben

den Kommunen und privaten In-

itiativen versuchten die Kirchen

und Ordensgemeinschaften das

schlimmste Elend der alten Men-

schen zu lindern. 1888 beispiels-

weise übergab eine vermögende

Kölner Witwe dem Lindenthaler

Pfarrer 18.000 Mark zumKauf eines

Grundstücks mit Haus und Garten.

Dort konnten alte, alleinstehende,

weibliche Personen‘ lebenslang

wohnen und wurden von Ordens-

schwestern gepflegt. Die Aufgabe

übernahmen die in der Kranken-

pflege bereits erfahrenen Schwes-

tern der Cellitinnen zur hl. Maria.

Auf dem Grundstück steht heute

das Seniorenhaus St. Anna.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts

versprach die ‚Bismarcksche So-

zialgesetzgebung‘ mit der Ren-

ten- und Krankenversicherung eine

Besserung der Missstände, doch

änderte sich zunächst nicht viel.

Die Leistungen reichten nicht zum

Überleben und wer Anspruch auf

eine Rente hatte, konnte diesen erst

mit 71 Jahren einfordern.

Licht am Horizont

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhun-

derts sollte das Leben der älteren

Generation geradezu revolutionie-

ren. Dank medizinischem Fortschritt

und eingeführten Hygienestan-

dards stieg die Lebenserwartung

von 44,8 Jahren bei den Männern

und 48,3 Jahren bei den Frauen

im Jahr 1900 auf 74,8 und 80,8

Jahre um die Jahrtausendwende.

Wer imMittelalter gottesfürchtig vor

den Altersgebrechen kapitulierte,

engagiert sich heute ehrenamtlich,

geht seinen Hobbies nach oder wird

ambulant zuhause oder in Senioren-

einrichtungen versorgt. 62 Prozent

der 65 bis 85-Jährigen beurteilte

ihre wirtschaftliche Situation im ver-

gangenen Jahr laut der ‚Genera-

li-Studie‘ als sehr gut bis gut, 31

Prozent als durchschnittlich und nur

sechs Prozent als schlecht. Die Ge-

neration 65+ ist längst keine Rand-

gruppe mehr, sondern mit 21 Pro-

zent Bevölkerungsanteil eine feste

Größe, auf die sich Medizin, Poli-

tik, Unternehmen und Gesellschaft

einstellen.

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Titel | Thema

CellitinnenForum 4/2018