Blickpunkt Schule 1/2024

Zeitschrift des Hessischen Philologenverbandes

Zeitschrift des Hessischen Philologenverbandes

Ausgabe 1/2024 · D 30462

SCHULE

Sprache und soziale Gerechtigkeit

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Zeitschrift des Hessischen Philologenverbandes

Ausgabe 1/2024 · D 30462

SCHULE

SCHULE Inhalt | In eigener Sache Foto: AdobeStock 2

Sprache und soziale Gerechtigkeit

Editorial » Eine neue Landesregierung – die Herausforderungen bleiben 3

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Liebe Leserin, lieber Leser!

‘Sprache und soziale Gerechtigkeit’ . Namhafte Expertinnen und Experten aus dem Kultusministerium, der Bildungsfor schung und den Lehrerverbänden analysie ren die aktuelle Lage, ziehen Schlussfolge rungen daraus und zeigen Lösungsansätze auf. Daneben gibt es wieder Berichte aus dem Verbandsleben. Unter anderem geht es da bei um den aktiven gewerkschaftlichen Einsatz von unseren Mitgliedern bei den Tarifverhandlungen in anderen Bundeslän dern, die mittelfristig auch Auswirkungen auf die Besoldung der hessischen Lehrkräf te haben werden. In der Rubrik ‘Klartext’ wird die Arbeitszeit der Lehrkräfte in den Fokus genommen, die auch schon in der letzten Ausgabe von Blickpunkt Schule Thema war. Schließlich findet sich am Ende des Heftes die Einladung zum ersten Seniorentreffen des hphv in diesem Jahr, das in Frankfurt stattfinden wird. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektü re und nachträglich noch einen guten Start ins 2. Halbjahr. Mit den besten Grüßen Ihr

von BORIS KRÜGER

Titelthema » Mehr als nur die Summe der Einzelteile

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» Literalität von Beginn an fördern – Familien bei der Lesesozialisation unterstützen 9 » Bildungssprache –

D ie Ergebnisse der aktuellen PISA Studie haben erneut gezeigt, dass es massive Probleme mit der deut schen Sprache an den Schulen gibt. Bei der Lesekompetenz liegt Deutschland mit 480 Punkten nur im Mittelfeld aller teilneh menden Staaten, was zudem im Vergleich zur letzten PISA-Studie ein Minus von 18 Punkten bedeutet – ein historischer Tief stand. Aber gerade die Beherrschung der deutschen Sprache ist eine unerlässliche Grundlage für das erfolgreiche Durchlaufen der schulischen und später beruflichen Laufbahn. Um hier niemanden zu benach teiligen und soziale Gerechtigkeit zu schaf fen, bedarf es einer Förderung jeder Schü lerin und jedes Schülers nach ihren und sei nen Bedürfnissen. Diese muss zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in der Bil dungsbiografie einsetzen, um zeitnah auf Probleme reagieren zu können und Chan cengerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bildungs hintergründen zu erreichen. Aufgrund der neuerlichen Aktualität des Themas widmet sich diese Ausgabe von Blickpunkt Schule dem Themenkomplex

was sie bezeichnet und weshalb sie wichtig ist

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» Lesekompetenz in PISA 2022

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» Sprache und

soziale Gerechtigkeit

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» »Heute bedeutet ‘Abitur’ betreutes Denken«

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Klartext » Arbeitszeitberechnung – ein heißes Eisen

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Berichte » Eben doch nicht wie ‘Sand’ am Meer!

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» Standortbestimmung in klösterlicher Atmosphäre » Solidarität jenseits des eigenen Gartenzauns! » Großdemo in Stuttgart am 30. November 2023 Senioren » Gesund und resilient in den und im Ruhestand Ankündigung » 1. Pensionärstreffen 2024 in Frankfurt

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Boris Krüger

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Werben in

Anzeigenannahme: Caroline Dassow dassow@dphv-verlag.de Telefon: 0211 3558104

Personalien » Geburtstage

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Mediadaten: https://www.dphv-verlag.de/mediadaten/

» Wir trauern um

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Eine neue Landesregierung – die Herausforderungen bleiben G ut einen Monat nach der Un terzeichnung des Koalitions vertrages und fast drei Mona von VOLKER WEIGAND Vorsitzender des Hessischen Philologenverbandes

Impressum

74. Jahrgang | ISSN 0723-6182 Verleger: Hessischer Philologen- verband e.V. Die Zeitschrift »BLICKPUNKT SCHULE« des Hessischen Philologenverbandes erscheint fünfmal im Jahr 2024. Der Hessische Philologenverband ist der Gesamtverband der Lehre rinnen und Lehrer an den Gymna sien in Hessen sowie an Schulen mit gymnasialem Bildungsange bot. Er ist der Fachverband im Deutschen Beamtenbund, Lan desbund Hessen (dbb), er ist dem Deutschen Lehrerverband Hessen (dlh) und durch den Deutschen Philologenverband (DPhV) dem Deutschen Lehrerverband (DL) angeschlossen. Für den Inhalt verantwortlich: Der Vorstand des Hessischen Philologenverbandes. Chefredaktion: Boris Krüger (V.i.S.d.P.) Mail: blickpunkt-schule@hphv.de Mit dem Namen der Verfasser gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Hessischer Philologenverband e.V. Geschäftsstelle: Schlichterstraße 18 Mail: hphv@hphv.de Web: www.hphv.de Bank: Volksbank Odenwaldkreis BIC: GENODE51MIC IBAN: DE30 5086 3513 0004 3579 73 Der Verkaufspreis ist durch die Mitgliedsbeiträge abgegolten. Verlag und Anzeigenverwaltung: Pädagogik & Hochschul Verlag Graf-Adolf-Straße 84 40210 Düsseldorf Tel.: 0211 3558104 Fax: 0211 3558095 Mail: dassow@dphv-verlag.de Satz und Layout: Tel.: 0211 1795965 Fax: 0211 1795945 Mail: heinemann@dphv-verlag.de 65185 Wiesbaden Tel.: 0611 307445 Fax: 0611 376905 www.dphv-verlag.de Anzeigenverwaltung:

Editorial

te nach der hessischen Landtagswahl steht nun auch das Personaltableau der neuen Landesregierung fest. Dass in diesen Wochen nahezu ununter brochen darüber spekuliert wurde, wer welches Ministerium führen wird, liegt auf der Hand. Aus Sicht der Leh rerverbände, und somit auch aus der des Hessischen Philologenverbandes, sind hier insbesondere das Kultus-, aber auch das Innen- und das Finanz ministerium von Bedeutung. Die bei den Letzteren insofern, da finanzielle Fragen natürlich nicht nur eine Rolle spielen, wenn es um unsere Besol dung geht, sondern auch um Budgets für eine angemessene Ausstattung der Schulen. Das Innenministerium ist nicht nur mit der Verhandlungsfüh rung in der aktuellen Tarifrunde der Ansprechpartner befasst, sondern im mer wieder auch zum Beispiel bei Fra gen des Dienstrechts, wie zuletzt bei der Novellierung des Personalvertre tungsgesetzes. Während die Wechsel der Minister Lorz und Poseck durchaus erwartet worden waren, überraschten erste Gerüchte noch vor Weihnachten, dass der frühere bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Armin Schwarz, aus Berlin zurück- kehren wird. Für unsere Kolleginnen und Kollegen, die an den Vertreterversammlungen des hphv in den Jahren vor der Pande mie teilgenommen haben, ist Armin Schwarz ein vertrautes Gesicht. Er war regelmäßig dort zu Gast (zuletzt 2019 im Kloster Haydau) und stand somit auch im regelmäßigen Austausch mit dem geschäftsführenden Vorstand des hphv.

Mit seiner Rückkehr und dem Koaliti onsvertrag verbinden sich Hoffnungen, dass die zahlreichen schulischen He rausforderungen, die nicht erst seit gestern sichtbar sind, gelöst werden. Dass in den kommenden fünf Jahren wieder ein Lehrer an der Hausspitze des Hessischen Kultusministeriums steht, weckt Erwartungen. Spürbare Entlas tungen unserer Kolleginnen und Kolle gen vor Ort sind überfällig. Die Arbeits überlastung durch ständig neue Aufga ben muss ein Ende haben. Eine immer mehr von Heterogenität geprägte Bil dungslandschaft braucht umso mehr Verlässlichkeit, um die Herausforderun gen zu lösen, die sich durch die vielen Trends wie zum Beispiel die Digitalisie rung ergeben haben. Wichtig ist es auch immer wieder zu betonen, dass der Versuch, mittlerweile fast alle ge sellschaftlichen Probleme durch die und in den Schulen selbst lösen zu wol len, zum Scheitern verurteilt ist. Mehr Klarheit in der Aufgabenzuweisung, mehr Rückendeckung für unsere Lehr kräfte, weniger Bürokratie und vor al lem wieder deutlich mehr Zeit für unser Kerngeschäft, den Unterricht, sind Wünsche, die der hphv für die neue Legislaturperiode der Landesregierung und insbesondere dem neuen Kultus minister mit auf Weg gibt.

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Ihr

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Volker Weigand

Titelthema

Mehr als nur die Summe der Einzelteile Zum Zusammenhang von Deutschkompetenzen und Bildungsgerechtigkeit

I n dem in Blickpunkt Schule 2/2022 erschienenen Beitrag ‘Gutes Deutsch – bessere Chancen’ wählte ich als Einstieg ein berühmtes Zitat des Linguisten Professor Henry Hig gins aus dem Musical My Fair Lady zum Zusammenhang zwischen Spra che und sozialer Schicht. »Sprache«, so die darin geäußerte Überzeugung, »mache den Menschen aus«, nicht aber seine Herkunft. 1 Seit dem Beitrag sind nunmehr fast zwei Jahre vergangen, und spätestens seit der Publikation der Bildungser gebnisse aus der achten Erhebungs studie zur funktionalen Grundbildung von Jugendlichen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen (PISA 2022) ist der Zusam menhang zwischen Bildung und Merkmalen wie Geschlecht, besuchter Schulart sowie der sozialen Herkunft erneut in das Zentrum des medialen Interesses gerückt. 2 Die Formulierung »erneut« ist dabei bewusst gewählt, denn bereits die Analyse der PISA-Er gebnisse aus dem Jahr 2018, als das Lesen zuletzt als Hauptdomäne ge testet worden war, sowie die Auswer tung des IQB-Bildungstrends im Jahre 2021 hatten signifikante Zusammen

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hänge zwischen den Parametern der sozialen Herkunft und den erreichten Kompetenzen in den jeweiligen Do mänen aufgezeigt. 3 Verstärkend tritt in dieser Situation hinzu, dass der Zu sammenhang zwischen Sprachkom petenzen und Bildungserfolg inzwi schen als ressortübergreifender Kon sens in den verschiedenen Wissen schaftsbereichen gilt. 4 Ist das von Henry Higgins formulierte Diktum an gesichts der zitierten Befundlage nicht mehr relevant und überholt? Hat die Herkunft doch die dominante Aus sagekraft über schulische Leistungs fähigkeiten unserer Schülerinnen und Schüler 5 erlangt? Der folgende Beitrag will zeigen, dass die Stärkung der unterschiedli chen (bildungs-) sprachlichen Kom ponenten angesichts der aktuellen Herausforderungen, mit denen das System Schule konfrontiert ist, dring licher als je zuvor geboten scheint. Am Beispiel ausgewählter Maßnahmen, die in Hessen insbesondere in der Um setzung des Maßnahmenpakets Bil dungssprache Deutsch in den vergan genen Jahren ergriffen wurden, soll darüber hinaus verdeutlicht werden, dass sich eine konsequente Deutsch

förderung als schulische Quer schnittsaufgabe positiv auf Chancen- und Bildungsgerechtigkeit auswirkt: Bildungserfolg als das Ganze – in An lehnung an den Titel des Beitrags – ist eben doch mehr als nur die Summe seiner Teile. Zur Rolle von Unterricht und Eltern Wenn es um Teile geht, so hilft uns zunächst ein Rechenbeispiel weiter, um einen grundlegenden Baustein zu betrachten, der in der Diskussion, was Schule vor allem mit Bezug zum Auf bau von Deutschkompetenzen leisten kann und soll, zuweilen ungebührend vernachlässigt wird: Die Rolle und der Einfluss der Eltern und Familien im Er ziehungsprozess und somit auch im Prozess der Herausbildung sprachli cher Fähigkeiten. Die Rechnung lautet wie folgt: Von 365 Tagen im Jahr ge hen zunächst 106 Tage Wochenende ab, an denen keine Schulzeit anfällt. Sodann ergeben sich aus Schulferien und gesetzlichen Feier- und Brücken tagen etwa weitere 70 Tage, an denen kein Unterricht stattfindet. Geht man zusätzlich von etwa zwei bis drei Wo

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sellschaft mit ein, sind die Eltern folg lich nicht nur eingeladen, sondern verpflichtet, einen entsprechenden Beitrag zu leisten. Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass El tern selbstverständlich in unter schiedlichem Maße dazu in der Lage sind, ihre Kinder sprachlich und litera risch zu fördern. Gleichwohl sollte es in ihrem Interesse sein, den Kindern eine bestmögliche Sprachbildung zu ermöglichen. An dieser Stelle ist die enge Zusammenarbeit zwischen dem Elternhaus und der Schule ein wichti ges Stellglied, das in beide Richtun gen funktioniert und sowohl Eltern als auch Schule in die gemeinsame Pflicht nimmt: Zahlreiche Forschungsergebnisse legen nahe, dass Erfahrungen im frühen Kindesalter langfristige Auswirkungen auf die gesundheitli che, kognitive und sozio-emotiona le Entwicklung haben. Bildungskon zepte, die Eltern bei der Erziehung unterstützen, können dazu beitra gen, ein möglichst entwicklungs förderndes Umfeld für Kinder zu schaffen. Solche Maßnahmen kön nen besonders dann langfristige Auswirkungen haben, wenn sie frühzeitig stattfinden und zu dauer haften Veränderungen im Verhalten der Eltern führen. 7 Hessen trägt dieser Tatsache seit vie len Jahren bewusst Rechnung, indem es beispielsweise durch die gesetzli che Verankerung verpflichtender Vor laufkurse für Schüler, deren Deutsch kenntnisse im Jahr vor der Einschu lung noch nicht dazu ausreichen, dem Unterricht entsprechend zu folgen, ein klares Zeichen zur Stärkung früh kindlicher Sprachförderung setzt. Die Brücke zum Elternhaus wird darüber hinaus auch im Bereich der Leseför derung geschlagen: Durch das aktive Engagement Hessens im Rahmen des ‘Nationalen Lesepakts’ in Zusammen arbeit mit über 180 Partnern – unter anderem der Stiftung Lesen – werden Programme unterstützt, die sowohl Schüler als auch Eltern ansprechen und zur Lesemotivation beitragen. Zu nennen ist hier stellvertretend der ‘Bundesweite Vorlesetag’, verschiede

Der Autor

Titelthema

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chen pro Jahr aus, an denen krank heitsbedingte Absenzen statistisch wahrscheinlich sind, so ergibt das durchschnittlich etwa 174 potenzielle Schultage pro Kalenderjahr, die je doch nur zu etwa einem Drittel (eher sechs, maximal acht Stunden netto pro Tag) tatsächlich in der Schule ver bracht werden, was zu folgender In terpretation einlädt: Der Einflussbe reich des pädagogisch angeleiteten Lernens im Kontext von Schule (Un terricht) ist zweifelsfrei wichtig, aber zeitlich spürbar begrenzt. Der weitaus größere Teil des Lebens unserer schul pflichtigen Kinder und Jugendlichen steht zumindest teilweise oder sogar vollkommen unter dem Einfluss wei terer Sozialisationsinstanzen: von Fa milie, Freunden, (sozialen) Medien und anderer. Die Verfasser unseres Grundgesetzes waren sich dieser Tat sache bewusst und formulierten kon sequenterweise in Artikel 6 (2): »Pfle ge und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staat liche Gemeinschaft.« 6 Wenn es nun um die zentralen Punkte der Deutschkompetenzen geht, die uns in den zuvor zitierten Studien und Erhebungen immer wie der als förderbedürftig präsentiert werden, beispielsweise die literarische Sozialisation oder die gezielte Sprachförderung, dann wird die Schu le diese Ziele ohne Unterstützung der weiteren Sozialisationsformen – vor allem der Eltern – nur schwerlich al lein erreichen können. Noch aus sichtsloser würde sich die Rechnung gestalten, wenn man den Aufbau bil dungssprachlicher Kompetenzen aus schließlich dem Deutschunterricht übereignen wollte. Bei der Erziehung, und das schließt die sprachliche, lite rarische und kulturelle Erziehung zu einem mündigen Mitglied unserer Ge

Dr. phil. Martin Blawid, Jahrgang 1979, Lehrer für

Deutsch, Englisch, Italienisch und Deutsch als Fremdsprache, seit 2020 Referent für Deutsch als Bildungssprache im Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen

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ne Bücherkoffer-Programme oder die Initiative ‘Ich schenk dir eine Ge schichte’ im Zusammenhang mit dem ‘Welttag des Buches’. 2019 als Schlüsseljahr: KMK-Empfehlung und Maßnahmenpaket Der Schule und dem Unterricht kom men naturgemäß die Schlüsselfunk tionen in der Ausbildung bildungs sprachlicher Kompetenzen zu, die für den weiteren Schulerfolg und somit den Weg in die duale Ausbildung oder ein Hochschulstudium wegweisend sind. Mit Sprache fängt der Bildungs weg an, und durch Sprache manifes tiert er sich irgendwann in der Form standardisierter Schulabschlüsse. Die Bedeutung des Registers der Bildungs sprache, das gemeinhin als die sprach liche Stilebene verstanden wird, in der man sich Wissen und Bildung aneignet und sie zugleich zum Ausdruck bringt, ist inzwischen in der Breite und Tiefe gut erforscht 8 und gesellschaftlich konsensfähig. Auch auf der Ebene der hohen Bildungsverwaltung lässt sich das gemeinsame Bestreben dokumen tieren: Die am 5. Dezember 2019 unter

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hessischer Federführung ausgespro chene Empfehlung der Kultusminister konferenz zur Stärkung bildungs sprachlicher Kompetenzen in der deut schen Sprache fasst diesen Aspekt un ter Punkt 2 zusammen: »Sprachliche Bildung ist Querschnittsaufgabe aller an schulischer Bildung Beteiligten und durchgängiges Unterrichtsprinzip in allen Fächern, Lernbereichen und Lernfeldern […]«. 9 In der Konsequenz der KMK-Emp fehlung entstand in Hessen ein Maß nahmenpaket zur Stärkung der Bil dungssprache Deutsch, das die unter schiedlichen Teildisziplinen bildungs sprachlicher Fertigkeiten thematisch abbildet, sie mit entsprechenden Res sourcen hinterlegt und durch ein dif ferenziertes Fortbildungsprogramm für Lehrer begleitet. Beispielhaft sol len an dieser Stelle einige Maßnah men zur Rechtschreibförderung, zu dem ausgewählte Bausteine des Be reichs ‘Leseförderung und Literatur’ und schließlich einige Aspekte aus dem Spektrum der Fortbildung be trachtet werden. Beispiel 1: Rechtschrei bung ja – aber bitte von Anfang an regelgeleitet Eines der bildungssprachlichen The menfelder, das in der öffentlichen Diskussion zuweilen etwas stiefmüt terlich behandelt wird, ist die Frage nach der Korrektheit in der deutschen Schriftsprache – die Rede ist im We sentlichen von Orthografie und Gram matik. Jedem fallen dazu anekdoti sche Erinnerungen ein, den sicheren Rechtschreibern vermutlich angeneh mere als denjenigen, die sich nie voll kommen kompetent damit gefühlt haben. Dabei sind gerade die aktuell gültigen Rechtschreibregeln der deutschen Sprache alles andere als unüberschaubar: Insbesondere die vielbesprochenen Reformen der Or thografie um die Jahrtausendwende haben sich rückblickend als wirkliche Vereinfachung und phänomengeleite te Vereinheitlichung der Schreibwei sen erwiesen: an klaren Regeln orien tiert, Ausnahmen reduzierend und da

mit für Lerner prinzipiell gut hand habbar. Eine Tatsache wurde durch die Reform jedoch nicht aufgehoben: die Notwendigkeit, die vorhandenen Re geln zu lernen, in der Praxis zu üben und somit zu einer kompetenten An wendung zu gelangen, die von der Sprachdidaktik gemeinhin als ‘Recht schreibfertigkeit’ bezeichnet wird. 10 Wie auch in anderen Disziplinen, die das Beherrschen einer bestimmten Technik voraussetzen, beispielsweise dem Erlernen des Klavierspiels oder der Ausführung des Vorhandschlags beim Tennisspiel, kommt dem An fangsunterricht auch in der Vermitt lung von Orthografie eine nicht zu überschätzende Bedeutung zu. Hier werden Grundlagen für das weitere Lernen gelegt, wird über Beobach tung, Nachahmung und Vorbilder er fahren und gelernt, sind Rückmeldun gen entscheidend für die weitere Lernprogression. Umso erstaunlicher mag es manchem geneigten Leser er scheinen, dass eine pädagogisch mo tivierte, konsequente Korrektur von Fehlern zuweilen immer noch man cherorts als ‘Rotstiftpädagogik’ diffa miert und nicht als das erkannt wird, was orthografische Korrekturen von Anfang an leisten: als Hilfe im Lern prozess. Hessen hat sich glücklicher weise für diesen Weg entschieden. Die Handreichung zum Grundwortschatz Hessen umfasst insgesamt rund 850 Worteinheiten, die in den unter schiedlichen Jahrgangsstufen einge übt werden. Zudem enthält sie einen ausführlichen Kommentarteil mit or thografischen Phänomenen und di daktischen Hinweisen zur Gestaltung des Unterrichts. Ab dem zweiten Halbjahr der ersten Jahrgangsstufe in der Grundschule erhalten Schüler in schriftlichen Rückmeldungen eine pä dagogisch motivierte Korrektur durch ihre Lehrer, anfangs durch die konse quente Ergänzung der korrekten Schreibung, im weiteren Lernfort schritt zunehmend durch Korrektur zeichen und den Hinweis auf bereits behandelte orthografische Phänome ne und Regeln. Diese Rückmeldungen dürfen nicht als Engführung des Lern prozesses verstanden werden:

Jeder, der eine Sprache lernt und sich im Übungsprozess darin befin det, gerät irgendwann an einen Punkt, an dem ihm Fehler unterlau fen. Das ist vollkommen natürlich und gilt seit vielen Jahren aus lern psychologischer und fachdidakti scher Perspektive als Hinweis auf den Lernstand der einzelnen Schü lerinnen und Schüler. Ebenso natür lich sollte es jedoch sein, dass es dabei nicht bleiben darf. Nicht der Fehler selbst sollte als Ziel des Lernprozesses wahrgenommen werden, sondern eine möglichst korrekte Sprachverwendung. Dies umfasst sowohl muttersprachliche als auch fremdsprachliche Erwerbs prozesse, mündliche wie schriftliche Kommunikation und natürliche und angeleitete Erwerbsszenarien. 11 Um den entscheidenden Schritt in Richtung einer selbstständigen, kom petenten Sprachverwendung zu gehen, benötigen Schüler insbesondere in den ersten Jahren des Schriftspracher werbs Hilfe in der Form von korrektem Sprachinput – einem korrekten Sprachvorbild, wie es die Fremdspra chendidaktik gerne formuliert. Hier zeigt sich einmal mehr der enge Zu sammenhang zwischen bildungs sprachlichen Kompetenzen und Bil dungsgerechtigkeit: Nicht allen Schü lern ist es möglich, jene Rückmeldun gen auch zu Hause zu erhalten. Ent sprechend bedeutsam ist die Spiegelung der korrekten Schreibweise in der Schule. Karin Kleppin hat dies bezüglich einmal sehr pointiert formu liert: »Wenn man als Lehrer im schrift lichen Bereich Fehler nicht anmerkt, muss der Lernende davon ausgehen, dass kein Fehler vorliegt. Woher soll er denn wissen, dass man – aus welchen Gründen auch immer – etwas nicht anstreicht?« 12 Folglich haben wir die pädagogisch motivierte Korrektur bis einschließlich Jahrgang 6 an den wei terführenden Schulen verbindlich fest gelegt, wenngleich eine Korrektur in den höheren Jahrgängen sicherlich vermehrt auf Korrekturzeichen und die Bewusstmachung behandelter Regeln und Phänomene zurückgreifen wird als in den ersten Jahren.

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Beispiel 3: Schulpraxis und Wissenschaft im Dienste der Fortbildung bündeln Wenn es um Fortbildung geht, ist das im Herbst 2023 eingeweihte Kompe tenzzentrum Bildungssprache Deutsch ein wesentliches Element, das wissenschaftliche Expertise und schulpraktische Bedarfslagen bün delt. Das Kompetenzzentrum besteht aus insgesamt vier Kompetenzstellen: Seit 2020 forscht die Kompetenzstel le Orthografie bereits zu den Themen Rechtschreibung, Grammatik oder zur verbundenen Handschrift. 2023 folg ten die Kompetenzstelle Literatur (Goethe-Universität Frankfurt), Mündliche Kommunikation (Philipps Universität Marburg) sowie Deutsch als Zweitsprache (Justus-Liebig-Uni versität Gießen). Die Kompetenzstel len forschen zu ihren jeweiligen The menschwerpunkten und entwickeln Fortbildungsangebote, die über Multi plikatoren (aus den Reihen der Fach beratungen Bildungssprache Deutsch) an die Lehrkräfte weiterge geben werden. Zu diesem Zweck sind die Kompetenzstellen mit der Hessi schen Lehrkräfteakademie, den Stu dienseminaren und den Staatlichen Schulämtern vernetzt und kooperie ren mit Stiftungen und externen wis senschaftlichen Einrichtungen und Initiativen. Ein Projektbüro, das mit ei ner Sachbearbeitungsstelle am Cam pus der Universität Gießen eingerich tet wird, ist unterstützend für die ad ministrativen Aufgaben rund um das Kompetenzzentrum zuständig. Regel mäßig stattfindende Kuratoriumssit zungen dienen der Qualitätskontrolle und der weiteren Planung der Arbeit und Vernetzung innerhalb des Kom petenzzentrums und der vier Kompe tenzstellen. Ein wesentliches Element der Dis semination von Fortbildungsinhalten bilden die seit 2019 an allen Staatli chen Schulämtern in Hessen einge richteten Fachberatungen Bildungs sprache Deutsch. Pro Schulamt wird die bedarfsgerechte Beratung von

Die nachhaltige Stärkung der schriftsprachlichen Kompetenzen in der deutschen Sprache endet jedoch selbstverständlich nicht mit dem Übergang in die Sekundarstufe I. Sie ist in ein schulisches Gesamtkonzept eingebettet, das im Primarbereich be ginnt, Fortbildungs- und Wettbe werbsangebote in der Sekundarstufe I (wie beispielsweise das Projekt ‘Die Mittelstufe schreibt’) einbezieht und in den verbindlichen Fehlerindex für die 9. und 10. Jahrgangsstufe im Se kundarbereich mündet. Dieser Fehler index bei der Bewertung von Sprach korrektheit in schriftlichen Arbeiten (Klausuren) ist in allen Unterrichtfä chern mit einer Mindesttextlänge von 100 Wörtern verbindlich, um den Stel lenwert, den eine korrekte schriftliche Form in Prüfungs- und Bewerbungs kontexten nach wie vor besitzt, zu ver deutlichen. Somit können die wichti gen Übergänge zwischen den Bil dungsstationen 13 – von der Grund schule in die weiterführende Schule sowie von der Sekundarstufe I zur Se kundarstufe II oder der Übergang in die duale Ausbildung – zukünftig noch gezielter vorbereitet werden. Zu gleich dient der Fehlerindex der Stär kung von Vergleichbarkeit und Trans parenz in der Notengebung. Auch das trägt maßgeblich zur Sicherstellung von Bildungsgerechtigkeit bei. Beispiel 2: Lesen trainieren, um Literatur schätzen zu lernen Literatur hat bei der Vermittlung grundlegender bildungssprachlicher Kompetenzen eine besondere Bedeu tung, da sie bei den Schülerinnen und Schülern zu großen Teilen die Basis für schriftsprachliche Fertigkeiten und Fähigkeiten bildet und darüber hinaus motivierend und persönlichkeitsbil dend wirken kann. Umso wichtiger ist es, einer bereits in der PISA-Studie 2018 konstatierten Absenkung der Lesemotivation bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen mit kon kreten Maßnahmen entgegenzutre ten. Das bereits zuvor erwähnte Enga gement Hessens im Rahmen des ‘Na

tionalen Lesepakts’ bildet ein konkre tes Bündel an Maßnahmen zur Stär kung von Lesemotivation. 14 Darüber hinaus wurden weitere flankierende Aspekte beschlossen, die einen direk ten Bezug zum Deutschunterricht aufweisen: Mit dem Ziel, den Lehrern und Schülern sowie deren Eltern ein verlässliches Gerüst an die Hand zu geben, hat Hessen schulformspezifi sche Lektüreempfehlungen entwi ckelt. In diese Empfehlungen sind zahlreiche Hinweise von Lehrkräften, Experten aus dem Bereich Fortbildung sowie Vertretungen der Literaturwis senschaft und Literaturdidaktik ein geflossen. Die Lektüreempfehlungen sollen die Lehrkräfte in ihrer täglichen Arbeit bei der Auswahl geeigneter li terarischer Texte unterstützen. Inhalt lich wird der breite Bogen von tradier ten ‘Klassikern’ hin zu aktuellen, preisgekrönten Texten für alle Alters- und Kompetenzstufen im Primar- und Sekundarbereich I geschlagen. Der Liste liegt darüber hinaus ein weiter Textbegriff zugrunde, der auch Hör spiele, Bilderbücher und Graphic No vels mit einbezieht. Die Schulen können die Lektü reempfehlungen als Unterstützung im Literaturunterricht einsetzen, um nicht nur inhaltlich-kulturelle Aspek te, sondern auch Lesefertigkeiten und Lesefreude als Teilbereiche bildungs sprachlicher Kompetenzen weiter zu stärken. Hilfe und Unterstützung für die Umsetzung dieses Anspruchs er halten die Schulen durch die Fachbe ratungen zur Stärkung der Bildungs sprache Deutsch der Staatlichen Schulämter in Hessen. Begleitend zu den Lektüreempfeh lungen ist es bedeutsam, die Rolle der Behandlung von Ganzschriften im Deutschunterricht zu stärken. Dafür hat Hessen die Behandlung mindes tens einer Ganzschrift pro Jahrgang in der Sekundarstufe I festgelegt. Bei der Auswahl geeigneter Texte bieten sowohl die Lektüreempfehlungen als auch die Fortbildungsangebote durch themenspezifische Fortbildungsreihen der Hessischen Lehrkräfteakademie eine hilfreiche Orientierung in der Un terrichtsplanung.

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Schulen in allen bildungssprachlichen Fragen durch eine Fachberatung für den Primarbereich und eine weitere Fachberatung für den Sekundarbe reich I abgedeckt. Die Fachberater werden inhaltlich durch das zuständi ge Fachreferat in Hessischen Kultus ministerium gesteuert und erhalten regelmäßige Fortbildungen zu den zu vor genannten Themen, die im Kom petenzzentrum verankert sind. Auf diese Weise gewährleistet Hessen die enge Anknüpfung wissenschaftlicher Forschungsarbeit mit der unterrichts wirksamen Arbeit in der Schulpraxis, um sicherzustellen, dass aktuelle For schung und Entwicklung an der Stelle Berücksichtigung finden, die uns am Herzen liegt: bei unseren Schülern und Lehrern im täglichen Unterricht. Das Zusammenwirken von Hoch schulen und Schulen kann schließlich auch an einem weiteren Beispiel illus triert werden: der Bund-Länder-Ini tiative zur Stärkung von Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS-Transfer). Die positive Evaluation aus der ersten Phase von ‘BiSS’ (2013 bis 2019) konnte eindrucksvoll zeigen, dass die entwickelten Instrumente – Materia lien und Fortbildungsformate – nach gewiesen wirksam sind. Diese Er kenntnisse werden in der zweiten Phase der Initiative seit 2020 noch stärker in die Schulpraxis übertragen. Dabei haben insgesamt sieben Ver bünde aus Schulen und – in einigen Fällen: Kindertagesstätten – ihre Ar beit aufgenommen, bis in das Jahr 2025 ein Netzwerk zu bildungs sprachlichen Themenfeldern aufbau en. Die beteiligten Schulen erhalten in diesem Zusammenhang die Gelegen heit, Fortbildungen zu durchlaufen, aber auch wissenschaftliche Beratung und Begleitung bei der Umsetzung von Schulentwicklungsvorhaben mit bildungssprachlicher Zielsetzung in Anspruch zu nehmen. Ausblick und Resümee Auch nach der Veröffentlichung der Ergebnisse aus der aktuellen PISA Studie 2022 steht weiterhin fest, dass das Beherrschen der deutschen Spra

che in Wort und Schrift als gesamt schulische Querschnittsaufgabe zwei felsohne sowohl eine Herausforde rung als auch eine Chance darstellt. Sprache – insbesondere das Register der Bildungssprache Deutsch – ist und bleibt das zentrale Medium, um sich Zugang zu Wissen und Bildung und somit einen Zugang zur Welt zu verschaffen. Wer diesen Schritt geht, dem offenbaren sich zahlreiche Mög lichkeiten in unserer mehr denn je auf Kommunikation ausgerichteten Ge sellschaft. Gleichwohl ist der Weg hin zu einer kompetenten, stilsicheren und adressatenbezogenen Anwen dung der deutschen Sprache keine Selbstverständlichkeit: Er muss von allen Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen unterstützt und geför dert werden. Das schließt neben dem Deutschunterricht, dem naturgemäß eine federführende Funktion dabei zukommt, sämtliche weiteren Unter richtsfächer in der Schule, aber darü ber hinaus auch die Unterstützung der Eltern und Familien, in denen unsere schulpflichtigen Kinder und Jugendli chen viel Zeit verbringen, mit ein. Um Bildungsgerechtigkeit nachhal tig zu sichern und weiter zu stärken, dürfen Sprache und mit ihr die Chan cen auf Teilhabe an unserer Gesell schaft nicht geburtsständischen Prin zipien folgen. Nur wenn alle Beteilig ten – so lautet das Plädoyer dieses Beitrags – ihre gemeinsame Verant wortung wahrnehmen, kann es gelin gen, die Teile des komplexen Prozes ses der Herausbildung bildungs sprachlicher Fertigkeiten so zusam menzusetzen, dass das Ergebnis un sere heranwachsende Generation so gut wie möglich auf die Herausforde rungen vorbereitet, mit denen sie zu künftig in Ausbildung, Studium und Berufsleben, aber auch in nahezu al len Bereichen des kulturellen Lebens in der modernen Gesellschaft kon frontiert sein wird. Mag diese Aufgabe auch vielleicht ebenso anspruchsvoll sein wie der zu Beginn zitierte Prof. Higgins gegenüber seiner Schülerin Eliza Doolittle: Nach wie vor lohnt es sich, diese Anstrengung gemeinsam anzugehen, heute mehr denn je zuvor.

1 vgl. Blawid, Martin: Gutes Deutsch – bessere Chan cen. Das Maßnahmenpaket zur Stärkung der Bil dungssprache Deutsch. In: Hessischer Philologen verband (Hg.): Blickpunkt Schule 2/2022. S. 15-18. 2 vgl. Lewalter, Doris/Diedrich, Jennifer/Goldham mer, Frank/Köller, Olaf/Reiss, Kristina (Hg.): PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutsch land. Münster 2023. 3 vgl. Reiss, Kristina/Weis, Mirjam/Klieme, Eckhard/ Köller, Olaf (Hg.): PISA 2018. Grundbildung im in ternationalen Vergleich. Zusammenfassung. S. 9. 4 Dazu gibt es mittlerweile eine breite Basis wissen schaftlicher Belege. Beispielhaft sei hier auf Hel ler/Moreks Beitrag aus dem Jahr 2021 verwiesen: Heller, Vivien/Morek, Miriam: Der Erwerb der Bil dungssprache in Familie und Schule. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.): Die Sprache in den Schulen – eine Sprache im Werden. Dritter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Berlin 2021. S. 37-62. 5 Aufgrund der Vielzahl der Personenbezeichnun gen (Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer etc.), die im weiteren Text auftreten, wird im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Dadurch wird die Lesbarkeit erheblich erleichtert. Alle weiteren Geschlechterbezeichnungen sind selbstverständlich einbegriffen. 6 Zit. nach: https://www.gesetze-im-internet.de/ gg/art_6.html (Zugriff: 2. Januar 2024). 7 Wößmann, Ludger/Schoner, Florian/Freundl, Ve ra/Pfaehler, Franziska (Hg.): Der ifo-’Ein Herz für Kinder’-Chancenmonitor. Wie (un-)gerecht sind die Bildungschancen von Kindern aus verschiede nen Familien in Deutschland verteilt? In: ifo Schnelldienst 4/2023 vom 19. April 2023. S. 41. 8 Stellvertretend wird hier auf den entsprechenden Beitrag von Christina Noack in diesem Heft verwie sen. Vgl. zudem: Noack, Christina: Was ist Bil dungssprache? In: Praxis Deutschunterricht 6/2020, S. 4-10; Gogolin, Ingrid/Lange, Imke/Mi chel, Ute u. a. (Hg.): Herausforderung Bildungs sprache – und wie man sie meistert. Münster 2013; Feilke, Helmuth: Bildungssprachliche Kompeten zen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 39/2012, S. 4-13 sowie Schleppegrell, Mary: The Language of Schooling. A Functional Linguistic Perspective. Mahwah 2004. 9 Zit. nach: https://www.kmk.org/fileadmin/Datei en/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019 _12_05-Beschluss-Bildungssprachl-Kompeten zen.pdf (Zugriff: 2. Januar 2024). 10 Damit wird deutlich jenen Ansätzen widerspro chen, die dem systematischen Üben sogar eine dem Lernprozess kontraproduktive Wirkung attestieren (beispielsweise das mit Jürgen Reichen verbundene Konzept ‘Lesen durch Schreiben’). Zur entspre chenden Kritik daran vgl. Schründer-Lenzen, Agi: Schriftspracherwerb. Wiesbaden 2013, S. 212ff. 11 Blawid, Martin: Korrektur als Hilfe. Ein Plädoyer für eine pädagogisch motivierte und motivierende Rechtschreibkorrektur. In: Klasse leiten für alle Schulformen und Schulstufen. Themenheft Nr. 21: Fördern und Differenzieren. Friedrich-Verlag 2022. S. 20. 12 Kleppin, Karin: Fehler und Fehlerkorrektur. Berlin 1997, S. 15. 13 Zur gezielten Betrachtung der Übergänge in der Vermittlung von Orthografie vgl. Hlebec, Hrvoe/ Sahel, Said (Hg.): Orthographieerwerb im Über gang. Perspektiven auf das Rechtschreiben zwi schen Primar- und Sekundarstufe. Berlin 2022. 14 Zum Themenbereich ‘Family Literacy’ wird auf den entsprechenden Beitrag von Jasmine Groß in diesem Heft verwiesen.

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Literalität von Beginn an fördern – Familien bei der Lesesozialisation unterstützen A ls zentrale Kulturtechnik ist das Lesen – und damit das Erler nen von umfassenden Lese Die Autorin

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schließlich Zeit in ihrem familiären Umfeld verbracht haben, verschlech terten, zeigt einerseits deutlich, dass Schule und Unterricht für den direk ten kommunikativen Austausch und das gemeinschaftliche Lernen im Klassenverband zentral sind, anderer seits wird angesichts dieses Befundes auch ersichtlich, dass den Elternhäu sern eine hohe Verantwortung im Hin blick auf die Lesesozialisation von Kindern zukommt, derer sich die El tern aber nicht immer bewusst zu sein scheinen oder der sie – aus ganz un terschiedlichen und vielfältigen, oft auch triftigen Gründen – nicht zu ent sprechen vermögen. Denn obschon sich aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Lesen in der Familie und eine Initiation von Lesesozialisationspro zessen in der gemeinsamen Zeit zu hause angeboten hätten, zeigen For schungsergebnisse wie der Vorlese monitor einen gegenteiligen Befund. So geben im Jahr 2022 immerhin 39 Prozent der Eltern an, ihren Kindern selten oder nie vorzulesen; die Studi energebnisse von 2019 zeigen in der Gegenüberstellung hier noch einen

geringeren Wert von 32 Prozent – oh ne Einfluss der Pandemie. 2 Gleichzei tig lässt sich feststellen, dass Eltern vergleichsweise spät damit beginnen, ihren Kindern Geschichten vorzulesen. Erst ab dem Alter von zwei Jahren und bis zum fünften Lebensjahr wird ver mehrt vorgelesen, mit dem Übergang zur Schule nimmt die Zahl der vorle senden Eltern stark ab. 3 Anzunehmen ist, dass mit der Schulreife und dem Übergang in die Primarstufe die Lese sozialisation und die Aufgabe der Ge staltung der gemeinsamen Teilhabe an literarischer Kultur und Kulturpro dukten zunehmend bis vollkommen in den Zuständigkeitsbereich der Schu len abgegeben zu werden scheinen. Selbstverständlich nimmt sich die Schule dieser Aufgabe auch an und Dr. phil. Jasmine Groß, Jahrgang 1980, Lehrerin für Deutsch und Englisch, seit 2022 tätig für den Bereich Deutsch als Bildungssprache im Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen

kompetenzen – eine zentrale Voraus setzung für gesellschaftliche Teilhabe und erfolgreiche Bildungsbiographien junger Menschen. Basale Lesefertig keiten zu besitzen, dem Gelesenen Sinn verleihen zu können und dem nach auch das Leseverstehen zu be herrschen, bestimmen die messbare Leseleistung. Auch in der achten Er hebungsstudie zur funktionalen Grundbildung von Jugendlichen in den Bereichen Mathematik, Naturwis senschaften und Lesen (PISA 2022) setzt sich im Hinblick auf die Ergeb nisse bezüglich der Lesekompetenzen und der Leseleistung der Negativtrend fort. 1 Natürlich ist dies zum Teil auf die Pandemie und deren Folgen (mit Homeschooling und alternativen Un terrichtsformaten) zurückzuführen, dies kann allerdings nicht als alleinige Ursache für die Resultate im Hinblick auf das Lesen und die Lesefertigkei ten geltend gemacht werden. Dass sich die Lesekompetenzen in einer Zeitspanne, in der Schülerinnen und Schüler verstärkt oder fast aus

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spielt naturgemäß eine sehr große Rolle beim Lesekompetenzerwerb. Um Chancen- und Bildungsgerechtig keit über das Erlangen von Lesekom petenzen gewährleisten und damit auch soziale Ungleichheiten nivellie ren zu können, reichen das schulische Engagement und das Unterstüt zungsangebot der Bildungsinstitutio nen allein aber nicht aus. 4 Tatsächlich sollten die Sprachför derung und die literale Bildung auch nicht erst ab dem zweiten Lebensjahr durch das Elternhaus in besonderer Weise gefördert werden. Vielmehr deuten einschlägige Studien und de ren Ergebnisse zur frühen Sprachför derung darauf hin, dass Kinder von Anfang an – »from birth to the time when they are able to read and wri te« 5 – mit sprachlicher Interaktion in möglichst vielfältiger Form konfron tiert und dieser ausgesetzt sein soll ten. Am wirksamsten ist dies, wenn das unmittelbare familiäre Umfeld (oder das sogenannte home literacy environment (HLE)) diese sprachliche Interaktion und die Auseinanderset zung mit dem Lesen, Vorlesen und Er zählen gestaltet. 6 Dabei sind das pas sive Zuhören und die nonverbale Kommunikation in den ersten Le bensmonaten entscheidende Fakto ren für die spätere verbale Kommuni kationsfähigkeit eines Kindes. Gebun den an diese Beobachtung ist die Feststellung, dass Kinder aus sozio ökonomisch stabilen Verhältnissen, deren Eltern über einen gewissen Bil dungshintergrund verfügen, durch schnittlich bedeutend früher in der beschriebenen Weise mit Sprache der Familie in Berührung kommen und später – vermutlich unter anderem auch deshalb – kompetenter im Spre chen, Lesen und Schreiben sind und werden. 7 Zudem scheint es eine Kor relation zwischen der möglichst frü hen Vorlesepraxis und dem späteren Leseverhalten bzw. der späteren in trinsischen Lesemotivation zu geben. Je früher Kindern vorgelesen wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder selbst während ihrer Schullaufbahn zu aktiven Leserinnen und Lesern werden. 8

Das frühe Vorlesen und der kom munikative Austausch sind ebenfalls für den Beginn der Schulzeit relevant, da sie sich positiv auf die Lesekompe tenz und das Leseverstehen auswir ken und diese wiederum den Schrift spracherwerb vorentlasten und er leichtern. 9 Phonologische Bewusst heit, vorhandener Wortschatz und grammatikalische Kenntnisse bzw. linguistische Kompetenzen, die das Leseverstehen bedingen und die über die frühe Sprachförderung ausge prägt werden, sind als sogenannte Vorläuferfertigkeiten in der Grund schulzeit für eine maßgebliche Er leichterung des Schriftspracherwerbs verantwortlich. 10 Die Familie trägt demnach also als »informelle Sozialisationsinstanz« 11 eine entscheidende Verantwortung, und es ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht der Eltern, für die Erzie hung und die Pflege ihrer Kinder Sor ge zu tragen – und dies natürlich nicht erst mit dem Schuleintritt. 12 Wie aber soll und kann sich die Verantwor tung für die (Sprach-)Bildung und die Literalität von Kindern sinnvoll auf die Familien und die Bildungsinstitutio nen verteilen? Im Hinblick auf die Herausforderung der Sprachförderung durch Familie und Elternhaus besteht eine gedop pelte – und letztlich wechselseitig Wirksamkeit entfaltende – Voraus setzung: Auf der einen Seite sollen insbesondere jüngere Kinder von An fang an »in der Familie in ihrer sprachlichen und schriftsprachlichen Entwicklung gefördert« und auf der anderen Seite deren »Eltern [...] aktiv darin unterstützt [werden], den Sprach- und Schriftspracherwerb ih rer Kinder zu fördern« 13 . Während der erste Teil dieser beiden Vorbedingun gen also klar der Familie und deren Zuständigkeitsbereich zugeordnet werden kann, fällt letztere Aufgabe den Kitas, der Schule – der Primar- und der Sekundarstufe –, aber auch sozialen Einrichtungen wie der Ju gendhilfe oder den Jugend- und Sozi alämtern zu. Ohne diese grundlegen den Unterstützungsmechanismen und die Information und Aufklärung

bezüglich der Relevanz der Sprachför derung von Anfang an werden weitere Fördermaßnahmen, die in Kita und Schule anlaufen und durchgeführt werden, zwar zur Erhöhung von Chan cen- und Bildungsgerechtigkeit bei tragen, diese aber nicht garantieren und nachhaltig gewährleisten können. 14 Dass genau dieser Umstand von bildungspolitischer Seite längst erkannt wurde, belegen in Hessen die bereits entwickelten und erfolgreich umgesetzten Maßnahmen, die einer seits die frühe Sprachförderung in den Blick nehmen (zum Beispiel mit den verpflichtenden Vorlaufkursen für Kinder, deren Deutschkenntnisse zum vorgesehenen Schulbeginn nicht aus reichend vorhanden sind) und die an dererseits zur Stärkung der Bildungs sprache Deutsch beitragen. So hat das Hessische Kultusminis terium mit der Bereitstellung von Lek türeempfehlungen für die sonderpä dagogische Förderung, die Primarstu fe und die Sekundarstufe I in allen Schulformen bereits einen wichtigen Schritt unternommen, um Lehrkräf ten – aber ganz zentral natürlich auch den Eltern und Schülerinnen und Schülern selbst – Lesetipps und Anre gungen für Lektüren an die Hand ge geben, die selbstverständlich nicht nur im Rahmen des Unterrichts be handelt werden sollen, sondern aus drücklich auch für den Hausgebrauch gedacht sind. In diese Lektüreemp fehlungen sind Hinweise und Rück meldungen von Pädagogen, Fortbild nern und Vertreterinnen und Vertre tern der Literaturdidaktik und der Li teraturwissenschaft eingeflossen und sie umfassen in einem weiten Litera turbegriff auch Hörbücher, Graphic Novels oder Bilderbücher. Zudem wur de bei der Auswahl darauf geachtet, Lektüren unterschiedlicher Genres und diverser Themengebiete aufzu führen, die einerseits aktuelle und preisgekrönte Titel umfassen und an dererseits als klassische Schullektü ren von literaturgeschichtlich beson ders prominenten Verfasserinnen und Verfassern gelten dürfen. Gemeinsam ist allen hessischen Lektüreempfeh lungen die grundlegende Intention,

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Lesestoffe auszuwählen, die sich po sitiv auf die Lesemotivation auswirken und die Faszination am Geschichten erzählen und die Freude am Eintau chen in phantastische Lesewelten nachhaltig zu wecken imstande sind. 15 Im Kontext des Nationalen Lese pakts engagiert sich das Land Hessen gemeinsam mit der Stiftung Lesen für die Leseförderung und setzt mit Ini tiativen wie dem ‘Bundesweite(n) Vor lesetag’ oder ‘Ich schenk dir eine Ge schichte’ im Rahmen des ‘Welttag(es) des Buches’ bei der Lesemotivation und der Lesesozialisation an und be zieht so das soziale Umfeld der Schü lerinnen und Schüler – von Familie und Elternhaus über Peer Group und die unterrichtenden Lehrkräfte – be wusst mit ein. Auch die Forschungser kenntnisse zu den unterschiedlichen Leseinteressen und Lesevorlieben von Mädchen und Jungen werden zuneh mend innerhalb der Konzeption dieser Maßnahmen berücksichtigt, sodass – dies ist zumindest ein ermunterndes Resultat der letzten PISA-Studie – die Unterschiede zwischen der Lesekom petenz von Jungen und Mädchen im deutschsprachigen Raum geringer geworden sind. 16 Dass die Eltern und die Familien stärker in die literale Bildung einbezo gen werden müssen und der diesbe zügliche Handlungsbedarf bereits er kannt wurde, lässt sich am Vorhan densein von Initiativen wie ‘Einfach vorlesen!’ oder ‘Lesestart 1-2-3’ sehr klar erkennen. Innerhalb dieser Pro jekte, die ebenfalls von der Stiftung Lesen in Kooperation mit der Deut schen Bahn (‘Einfach vorlesen!’) oder in Zusammenarbeit mit dem Bundes ministerium für Bildung und For schung (‘Lesestart 1-2-3’) finanziert und durchgeführt werden, werden den Eltern und Familien Lektürevorschlä ge unterbreitet, Texte zum Vorlesen – zum Teil medial aufbereitet – bereit gestellt und auch Materialpakete mit Bücherexemplaren gratis zur Verfü gung gestellt. Insbesondere letzterer Aspekt hat sich im Vorlesemonitor als wichtig erwiesen: Je mehr Bücher – Bilder- oder Kinderbücher – in einem Haushalt vorhanden sind, desto grö

ßer die Wahrscheinlichkeit, dass El tern ihren Kindern aus ebenjenen Bü chern auch vorlesen und so zu einem authentischen Lesevorbild werden. 17 Wie sich anhand dieser Ausführun gen deutlich zeigt, mangelt es also nicht an Angeboten oder konkreten Hinweisen bezüglich möglicher Lektü ren oder gar an der Bereitstellung von Medien und Lesematerial. Die ent scheidende Herausforderung besteht in der Aktivierung der Eltern und des familiären Umfelds und ganz aus drücklich auch in der Vermittlung der Notwendigkeit, sich im Hinblick auf die Sprachbildung und die Ausbildung von Literalität zu engagieren und ein zubringen und – vor allen Dingen – neben den Materialien und theoreti schen Hinweisen praktische und le bensnahe Anleitungen zu geben. Genau diesen Ansatz verfolgen För derprogramme, die sich auf die Family Literacy konzentrieren. Die englisch sprachige Formulierung begegnet nicht ohne Grund. Die Ursprünge der Family Literacy liegen im englisch sprachigen Raum und gehen auf die Integrationsschwierigkeiten der Ein wanderer in die USA in den 1980er Jahren, die sich aufgrund mangelnder Englischkenntnisse mit erheblichen Verständigungs- und Sprachschwie rigkeiten konfrontiert sahen, zurück. 18 Tatsächlich liegt der Fokus der Family Literacy auf einer Sprachförderung, die die Integration und die bessere Vernetzung von Familien mit Migrati onshintergrund mit den für sie zu ständigen sozialen Einrichtungen und den Bildungsinstitutionen beabsich tigt und hier gezielt Vorbehalte und Hemmschwellen reduzieren möchte. Dabei setzen Maßnahmen im Kontext der Family Literacy auf eine möglichst frühe Sprachförderung und eine lang fristige und nachhaltige Anlage, die bewusst nicht nur auf pädagogische Einrichtungen beschränkt ist. 19 Strukturelle Gemeinsamkeiten der verschiedenen Programme zur Family Literacy liegen in ihrem generations übergreifenden Ansatz und in der All tagsorientierung der Programminhal te. Familien werden dabei unterstützt, in ihrem Alltag Gesprächsanlässe und

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gabe, die zunehmend auch Familien, in denen Deutsch als Muttersprache gesprochen wird, betrifft und auch in diesem Zusammenhang stärker adressiert und bei der Konzeptionali sierung zukünftiger Programme be rücksichtigt werden muss. 1 vgl. Lewalter, Doris/Diedrich, Jennifer/Goldham mer, Frank/Köller, Olaf/Reiss, Kristina (Hrsg.): PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutschland. Münster 2023, S. 139-162. Bereits 2018, als das Lesen und die Lesekompetenz inner halb der Studie schwerpunktmäßig untersucht wurden, ließ sich nicht nur eine generelle Ver schlechterung der basalen Lesekompetenzen und des Leseverständnisses feststellen, sondern auch eine Abhängigkeit des Bildungserfolges von Fakto ren wie dem sozioökonomischen und dem sozio kulturellen Hintergrund der Familie der Schülerin nen und Schüler. vgl. Reiss, Kristina/Weis, Mir jam/Klieme, Eckhard/Köller, Olaf (Hrsg.): PISA 2018. Grundbildung im internationalen Vergleich. Münster 2019. 2 vgl. Stiftung Lesen, Die Zeit, Deutsche Bahn (Hrsg.): Frühe Impulse für das Lesen – Realitäten in den Familien. Vorlesemonitor 2022. Repräsen tative Befragung von Eltern mit Kindern zwischen einem und acht Jahren. Verfügbar unter: https:// www.stiftunglesen.de/fileadmin/Bilder/Forschung/ Vorlesestudie/Vorlesemonitor_2022.pdf, zuletzt eingesehen am 2. Januar 2024, S. 6; S. 8. 3 Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, wenn Sechsjährigen von 49 Prozent der Eltern sel ten oder nie vorgelesen wird. Vgl. Vorlesemonitor 2022, S. 11. 4 Dass mit Bildungsgerechtigkeit nicht eine Ver gleichbarkeit des zu erreichenden Bildungsziels zu verstehen ist, sondern sich Bildungsgerechtigkeit als Gleichheit der formalen Rahmenbedingungen, die den Zugang und die Realisierbarkeit von ver schiedenen Optionen zur Bildung ermöglichen, definieren lässt, muss hervorgehoben werden. Vgl. Maaz, Kai: Chancengerechtigkeit. Ein Ding der (Un-)Möglichkeit? In: News & science 44 (2017) 2, S. 41-44, S. 41. 5 Saracho, Olivia N.: Literacy and language: new developments in research, theory, and practice. In: Early Child Development and Care, 187 (2017), 3-4, S. 299-304, S. 301. 6 vgl. Niklas, Frank/Cohrssen, Caroline/Tayler, Col lette: The Sooner, the Better: Early Reading to Children. In: Sage Open Oct.-Dec. (2016), S. 1-11, S. 1-2. Als Ableitung aus diesem Befund stellen die Verfasser fest, dass das weitere soziale Umfeld ebenfalls einen Einfluss auf die Sprachentwicklung von Kindern hat, dieser aber im Vergleich zum engsten familiären Kreis gering ausfällt. 7 vgl. Niklas, Cohrssen, Tayler (2016), S. 2-3. 8 vgl. Niklas, Cohrssen, Tayler (2016), S. 3. 9 vgl. Wiescholek, Sabrina: Lesen in Familien mit Family Literacy. Elterliche Unterstützung beim Le sekompetenzerwerb in der ersten Klasse. Wiesba den 2018, S. 16. 10 vgl. Wiescholek (2018), S. 21-24. 11 Bonanati, Sabrina/Greiner, Christian/Gruchel, Nicole/Buhl, Heike M.: Lesekompetenz fördern. Ein Manual für das LIFE-Programm zur Stärkung der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule. Wiesbaden 2020, S. 2.

Gelegenheiten für die Auseinanderset zung mit Sprache und Schriftsprache zu erkennen und diese ohne größeren Aufwand auch zu nutzen. Programme wie FLY in Hamburg oder HIPPY (Home Interaction for Parents and Preschool Youngsters) bieten gemeinsame Tref fen, Veranstaltungen, Exkursionen und zum Teil auch Hausbesuche an, bei de nen die Familien mit Grundgerüsten sozialer Praktiken und Kooperations formen vertraut gemacht werden und diese direkt anwenden und umsetzen können. 20 In den Gruppentreffen, die zum Teil nur für die Kinder, nur für die Eltern oder mit Eltern und Kindern ge meinsam durchgeführt werden, wer den über spielerische Ansätze und ge meinsame Erlebnisse (vom Vorlesen über das Einkaufen und Kochen bis zur Planung anstehender Ausflüge) das soziale Miteinander und die Kommuni kations- und Sprachfähigkeit eingeübt und trainiert. 21 Auf diesem Wege wird einerseits der familiäre Zusammenhalt gestärkt und andererseits die Selbst wirksamkeit der Eltern in ihrer Rolle als verantwortungsvolle Erziehende unter stützt und verbessert. 22 Damit wird ebenfalls ein Beitrag zur Gesundheits fürsorge und Prävention geleistet. Bezüglich eines Charakteristikums der Family Literacy sind allerdings weiterführende Anpassungen und Überlegungen notwendig: Die zitier ten Forschungsergebnisse (PISA-Stu die, Vorlesemonitor) zeigen deutlich, dass das Konzept einer Family Litera cy – abweichend von dem ursprüngli chen Entwicklungsgedanken – nicht mehr ausschließlich Familien mit einer Migrationsgeschichte oder mit einer anderen Muttersprache als dem Deutschen vorbehalten sein sollte und entsprechend einer weiteren Öff nung bedarf. Das Herstellen von Lite ralität über den sprachlich-kommuni kativen Austausch und die Lesesozia lisation ist, so lassen der Vorlesemoni tor, die vorschulischen Sprachstands erhebungen und die Bildungsstudien (zuletzt die bereits erwähnte PISA Studie mit den bislang schlechtesten Ergebnissen im Hinblick auf die Lese kompetenzen) mehr als deutlich er kennen, eine viel umfassendere Auf-

12 vgl. GG Art. 6 Absatz 2. 13 Valtin, Renate/Bird, Viv/Brooks, Greg/Brozo, Bill et.al.: European Declaration of the Right to Litera cy, March 2016, European Literacy Policy Network. Verfügbar unter: http://www.eli-net.eu/about us/literacy-declaration/, zuletzt eingesehen am 30.12.2023, S. 2. 14 Auf die besondere Rolle der Eltern und auf deren Einfluss auf die Deutschkompetenzen und die lite rarische Sozialisation geht Martin Blawid mit sei nem Beitrag zum Zusammenhang von Deutsch kompetenzen und Bildungsgerechtigkeit ein. 15 Wie einschlägige Untersuchungen sowohl zur Motivationspsychologie als auch zur Lesesozialisa tion zeigen, sind die positiven Besetzungen und Erfahrungen, die die Auseinandersetzung mit ei nem Lerngegenstand begleiten, ausschlaggebend für die Höhe des Ertrages aus dieser Beschäfti gung. Entsprechend wichtig ist es, ansprechende und ästhetische Stoffe und Inhalte auszuwählen. Exemplarisch: vgl. Deci, Edward L./Ryan, Richard M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeit schrift für Pädagogik 39 (1993), S. 223-238. 16 Konkret liegt die Differenz in der Lesekompetenz zwischen Mädchen und Jungen bei 20 Punkten und damit deutlich unterhalb des OECD-Durch schnitts. Die Geschlechterdifferenz ist im Vergleich zur PISA-Studie von 2018 um sechs Punkte gesun ken. Vgl. PISA 2022, S. 150. 17 vgl. Vorlesemonitor 2022, S. 28. 18 vgl. Nickel, Sven: Family Literacy – Sprach- und Literalitätsförderung in der Familie. In: Fachforum: Orte der Bildung im Stadtteil. Dokumentation zur Veranstaltung am 16. Und 17. Juni 2005 in Berlin, hrsg. von der Regiestelle E&C der Stiftung SPI. 20 Mit speziellen Programmbausteinen wird darüber hinaus auch auf Geschlechterspezifika im Vorlese verhalten und in der sozialen Interaktion eingegan gen. So gibt es mit Programmen, die gezielt auf Vä ter abgestimmt sind und deren Engagement in Er ziehung und Sprachförderung aktivieren sollen, ei ne Reaktion auf Tendenzen, die sich beispielsweise im Vorlesemonitor gezeigt haben. Mütter lesen ih ren Kindern demnach bedeutend häufiger vor und kümmern sich verstärkt um die literale Bildung, während Väter hier deutlich zurückhaltender agie ren. Vgl. Vorlesemonitor 2022, S. 15. 21 Wie vielfältig die Projekte und Unternehmungen im Rahmen der Programme zur Family Literacy sein können, zeigt exemplarisch eine Veröffentli chung des Hamburger FLY-Programms: vgl. Lan desinstitut für Lehrerbildung und Schulentwick lung Hamburg (Hrsg.): Good practice – Beispiele aus elf Hamburger FLY-Schulen im Rahmen des ‘Mini King Sejong-Preises’. Hamburg 2012. 22 In den Evaluationen der Programme zur Family Literacy ist genau dies ein zentrales Ergebnis: Bis zur Teilnahme fühlten sich Eltern mit ihrem Erzie hungsauftrag nach eigenen Angaben oftmals überfordert, obwohl sie das Bedürfnis hatten, ih ren Kindern zu helfen. Sie gaben an, sich über die im Programm vermittelten Inhalte bedeutend si cherer und kompetenter bei der Erziehung ihrer Kinder zu fühlen. Dies belegt die Sinnhaftigkeit und illustriert die Notwendigkeit der Durchführung derartiger Programme sehr eindringlich. Vgl. Bo nanati et. al. (2020), S. 13; vgl. Wiescholek (2018), S. 204-210. Berlin 2005, S. 85-91, S. 86. 19 vgl. Nickel (2005), S. 86.

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